Schritt für Schritt: Sind Menschen die Energiequelle von morgen?

Charisma kann man nicht kaufen. Aber man kann es designen. Von Interview zu Interview, Bühnenauftritt zu Bühnenauftritt. So geschehen bei Laurence Kemball-Cook, dem Schöpfer von Pavegen – er hat sich in den vergangenen neun Jahren ganz neu entworfen. Vom Garagenentwickler mit Nerd-Charme zum perfekt gekleideten, weltmännisch agierenden Aushängeschild eines sympathischen, nachhaltigen Start-ups.
Das Prinzip der Gamification des Alltags
Die Idee, auf der sein Unternehmen fußt, ist so simpel wie brillant: den Kraftaufwand des menschlichen Fußschritts in Elektrizität umwandeln. Kein Wunder, dass der bestechende Ansatz schnell Aufmerksamkeit erregte – die Kemball-Cook zwar genoss, aber nicht gewohnt war. Anfangs wirkte er bei öffentlichen Auftritten noch wie ein schüchterner Einserschüler, der sich vorsichtigen Stolz auf seine Leistung erlaubt. Heute vermarktet er Pavegen als enthusiastische One-Man-Show so einnehmend, dass viele in ihm den nächsten Elon Musk sehen: einen Rockstar der Digitalisierung.

Dabei war Kemball-Cook auch im Jahr 2009, als er Pavegen gründete, kein verspannter Tekkie. Obwohl er sich nach eigenen Angaben etwa drei Jahre lang in seiner winzigen Londoner Wohnung eingeschlossen und an der Technik hinter Pavegen getüftelt hatte, stand für den studierten Industriedesigner eine feste Größe über allem: Spaß. Beziehungsweise die Philosophie, die er aus dieser Größe ableitet.
„The Gamification of Life“ nennt er sie und führt aus: „Menschen animiert man zur Weiterentwicklung, indem man Belohnungssysteme kreiert, unmittelbares Feedback anbietet, den Umgang mit abstrakten Werten anfassbar macht.“ Kemball-Cook will ein neues Bewusstsein für Ressourcen schaffen und für Eigenverantwortlichkeit – auf spielerische Art, nicht mit erhobenem Zeigefinger.
Anfängliches Scheitern ebnete den Weg zum Erfolg
Den inzwischen 32-Jährigen umgibt eine beinahe kindliche Leichtigkeit, die heute sein Charisma ausmacht – und damals dafür sorgte, dass er nicht den Mut verlor, bevor die Erfolgsgeschichte von Pavegen überhaupt begann. Denn am Anfang dieser Geschichte stand ein schmerzliches Versagen.
Als Student an der renommierten Loughborough University hatte Kemball-Cook unter anderem für einen europäischen Energiekonzern geforscht, der ihm im Anschluss ein eigenes Projekt anvertraute. Die Aufgabenstellung: eine städtische Straßenbeleuchtung entwerfen, die als geschlossenes System durch erneuerbare Energie angetrieben wird.

„Wir agierten als eine Art Ninjatruppe innerhalb des Unternehmens“, erinnert sich Kemball- Cook. Natürlich dachte das Team als Erstes an die etablierten Ressourcen: Wind und Sonne. „Unsere Ideen waren ambitioniert und teuer“, so Kemball-Cook. Er schlug großzügige Investitionen in spezielle LED-Hersteller vor, in externe Forschungsaufträge – das Unternehmen ließ ihm freie Hand. Doch nach Ablauf eines halben Jahres holte die Realität den Visionär ein.
Das Projekt war gescheitert, Kemball-Cooks sorgfältig durchdachte Designs erwiesen sich allesamt als nicht funktionstüchtig. „Wind- und Solarenergie eignen sich einfach auf Dauer nicht, um Systeme innerhalb einer Großstadt verlässlich anzutreiben. In den Straßenschluchten ist es schattig, der Wind wird von Gebäuden abgestoppt – wir gaben auf, und ich verließ den Konzern mit hängendem Kopf.“
Londoner Tube Station diente als Inspirationsquelle
Zu spät, um das Projekt zu retten, doch genau zum richtigen Zeitpunkt, um vielleicht die Welt zu verändern, kam ihm die zündende Eingebung, als er in der Londoner Victoria Station auf die U-Bahn wartete. Londons Tube Stations gleichen zur Rushhour Bienenstöcken, vibrieren förmlich vor menschlicher Dynamik und Energie. Was, wenn man diese Energie einfangen, umwandeln könnte? Die Idee hinter Pavegen war geboren, das Know-how hatte Kemball-Cook allemal.
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Mit wiedererwachendem Enthusiasmus machte er sich an die Umsetzung. „Nachdem ich den Prototyp entwickelt hatte, ging es darum, schnellstmöglich geeignete Sponsoren zu finden.“ Denn als typischer Millennial, in dessen Augen sich visionäres Denken und Pragmatismus nicht ausschließen (dürfen), war sein Anspruch: „Etwas entwerfen kann jeder. Es aber so zu entwerfen, dass es sich unlimitiert vervielfältigen lässt – erst das zeichnet gestalterischen Erfolg aus.“
Design ist für ihn im Kern Kommunikation. Nicht Selbstzweck, sondern Dienstleistung. Erleichterung des Alltags, unmittelbare Weltverbesserung. Laurence Kemball-Cook ist kein geduldiger Mensch. Er hatte keine Lust, jahrelang Klinken zu putzen oder sich die Umsetzung seiner Vision mit 70-prozentiger Gewinnbeteiligung großer Akteure zu erkaufen. So entdeckte er sein Verkaufstalent und hatte nach mutigen Guerillamarketing-Maßnahmen Erfolg: „Einige Business Angels, die an uns glaubten, stellten die ersten vier Millionen Pfund bereit. Wir konnten in Produktion gehen.“
2016 wurde ein weiterer Meilenstein erreicht, gestützt von einer Crowdfunding-Aktion, deren Erfolg selbst den Optimisten Kemball-Cook überraschte: Aus der ehemals quadratischen Bodenfliese mit einem einzelnen, per Fußtritt in Bewegung gesetzten Schwungrad in der Mitte entwickelte das Pavegen-Team ein dreiseitiges Modell mit einem Rad an jeder Ecke. „Damit generiert nun ein einziger Schritt bis zu 200-mal mehr Elektrizität als mit unserem Prototyp.“
Ein realisierbares Modul für die Smart Cities von morgen
Im Hinblick auf die praktische Nutzung in Einkaufszentren, Flughäfen oder Fußgängerzonen bedeutet das Triangelmodell auch, dass weniger Fläche verschenkt wird; wie Bienenwaben greifen die einzelnen Fliesen lückenlos ineinander. Ein neuartiges Steckmodulprinzip, das leichter zu warten ist, verursacht weniger Kosten und verfügt über eine Garantie von 20 Jahren. Erfreuliche Neuigkeiten, die Kritiker nach und nach zum Verstummen bringen. Denn aus der „Spielerei“, die mit großem Showeffekt auf Technik- und Lichtkunstfestivals präsentiert wurde, ist ein realisierbares Modul der Smart Cities von morgen geworden.
Die Bird Street, eine Seitenstraße der berühmten Oxford Street, ist Londons erste Smart Street. 2017 konnten Passanten dort im Zuge eines Pavegen-Projektes Energie für Straßenleuchten und Soundeffekte erzeugen, dazu Daten über ihre Bewegungen erheben. In der Nähe des Weißen Hauses in Washington D. C. liegt seit 2017 eine meterlange Pavegen-Fläche. Seit Frühjahr 2018 befindet sich eine in einem Einkaufszentrum vor den Toren Londons.
Die Entwicklung hin zur Alltagstauglichkeit
Die ersten öffentlichen Umsetzungen hatten noch eher Show- und PR-Charakter, beispielsweise die Unterfütterung eines Fußballrasens in den Favelas von Rio de Janeiro, mit der die Spieler die Flutlichter selbst betreiben sollten – allerdings mussten sie von Solarpaneelen auf den umliegenden Dächern unterstützt werden. Mittlerweile nehmen die Projekte immer alltagstauglichere Formen an. 2018 hat Kemball-Cook ein Memorandum mit dem Technologiekonzern Siemens unterzeichnet, um sich mit dessen Hilfe weltweit noch breiter aufstellen zu können. Die Ausstattung von Flughäfen und Krankenhäusern wird bei der Zusammenarbeit im Fokus stehen.
„Wir wollen Pavegen irgendwann zum gleichen Preis anbieten können wie regulären Bodenbelag“, so Kemball-Cook selbstbewusst. Der Jungunternehmer begeistert Sponsoren, Politiker und NGO-Akteure gleichermaßen – vor allem dadurch, dass ihm jegliche Verstiegenheit abgeht. Sein Antrieb als Designer ist die Motivation, die alle erfolgreichen Architekten unseres Alltags eint: Design und Technik sollen dem Menschen dienen und nur dem Menschen. Seit einiger Zeit predigt er in Vorträgen und Podiumsdiskussionen vom „Internet der Wesen“ („Internet of Beings“) als Weiterentwicklung des „Internets der Dinge“. Kemball-Cook glaubt nach wie vor fest an Motivation durch „Gamification“.
„Deshalb wurde Pavegen gleich zu Beginn angenommen“, ist er sich sicher, „weil es Spaß macht, die Konsequenzen seines Tuns sofort zu spüren.“ Man macht einen Schritt, eine Lampe geht an. Man spaziert über ein Pavegen-Feld und kann per App selbst entscheiden, wohin die Energie fließt, die man generiert. Beleuchtet man die Außenfassade seines Lieblingscafés? Spendet man sie für einen guten Zweck? „Unser nächstes Ziel ist es, ein auf der Erlaubnis des Nutzers basierendes System zu perfektionieren, das Menschen für ihre Schritte belohnt“, führt Kemball- Cook aus.
Die Pavegen-Designer arbeiten fieberhaft an neuen digitalen Benefits, haben unzählige Ideen für die Nutzung ihres Produkts. Immerhin – und das könnte ein wichtiger Baustein für zukünftige Smart Cities werden – enthalten alle Pavegen-Systeme kleine Bluetooth-Sender (sogenannte Beacons), die Daten zur Bewegung über ihnen festhalten. So können sie Aufschluss über „Fußgänger-Rushhours“, aber auch Konsumentenverhalten geben. Ein weiterer möglicher Schritt führt in die Automobilität. Theoretisch könnten Fahrzeuge mit dem Druck, den sie beim Stoppen auf dem Straßenbelag erzeugen, nach dem Pavegen-Prinzip Energie generieren. Die nachhaltige, zum Teil sogar wohltätige „Gamification“ von Mobilität: Kann eine Vision mehr Charisma haben?
Aktuell kommt Pavegen an über 200 Orten in 30 Ländern, zum Einsatz. Zu den jüngsten Projekten gehören die Zusammenarbeit mit Transport for London und der New West End Company bei der Entwicklung der weltweit ersten befahrbaren Smart Street. Mit Google arbeitet Pavegen an der Errichtung des weltweit größten Energie- und Datenerfassungs-Netzes in Berlin. Für den Immobilienentwickler Globalworth installiert Pavegen an deren nachhaltigen High-Tech-Firmenzentrale im rumänischen Bukarest zwei Energiegewinnungswege. Und in Las Vegas sind die Engländer Projektpartner beim Bleutech-Park, einem 7,5 Milliarden Dollar Projekt, bei dem bis 2025 eine nachhaltige Ministadt mit automatisierten multifunktionalen Designs, erneuerbaren Energien, autonomen Fahrzeugen und künstlicher Intelligenz gebaut wird.
